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Publikation

Poetik der Oberfläche
Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre

Herausgegeben von Olaf Grabienski,
Till Huber und Jan-Noël Thon

Berlin u.a.: de Gruyter, 2011

ISBN 978-3-11-023764-1

Der Sammelband widmet sich der Geschichte und Gegenwart deutschsprachiger Popliteratur; Bezügen zwischen Popliteratur und Popkultur im Kontext von Dandyismus, Camp-Ästhetik, Gender-Forschung und Popmusik; dem Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Konzepten von Autorschaft und Formen auktorialer Selbstinszenierung sowie - mit einem besonderen Schwerpunkt - den Romanen Christian Krachts als dem wohl einflussreichsten und vielgestaltigsten unter den 'Kiwi-Popliteraten'.

Konzeption

Auf die Frage, ob bestimmte Beobachtungen der für die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre prägenden Autoren Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht (bzw. ihrer Erzähler) nicht stark vereinfachend seien, antwortet Kracht in einem seiner raren Interviews: "Genau, das sind Klischees, das ist die Oberfläche. Und die auszuloten, darum geht es" (Philippi/Schmidt 1999, S. 3). Die Oberfläche auszuloten, dabei handelt es sich um eine paradox anmutende Figur, die in Diskussionen um und über Popliteratur immer wieder verwendet wird: So überschreiben Frank Degler und Ute Paulokat ein Kapitel ihres Einführungsbandes Neue Deutsche Popliteratur (2008) mit dem Titel "Die tiefen Oberflächen", und auch Dirk Frank bemerkt in der Einleitung zu einer von ihm herausgegebenen, thematisch einschlägigen Reclam-Anthologie, dass Popliteratur sich der Oberfläche zuwende, ohne dabei selbst oberflächlich sein zu wollen (vgl. Frank 2003, S. 7). Popliteratur, so wiederum Degler und Paulokat, lässt sich "als eine Literatur der 'Oberflächenabgründe'" beschreiben, "in der verführerische Sprach- und Zeichenspiele in der Horizontalen inszeniert werden" (Degler/Paulokat 2008, S. 106). Dies geschehe zum einen durch spielerische Bezugnahme auf eine 'nicht wirkliche', sozusagen 'oberflächliche' Wirklichkeit in Form von Markennamen, Popmusik, Partygesprächen, Konsum und Rauscherfahrungen. Zum anderen führe ein ironisches Misstrauen gegenüber den repräsentativen Kräften der Sprache dazu, dass den Zeichen als Referenzwert nur noch andere Zeichen zur Verfügung stehen. Also: Literatur als reine Textoberfläche. Gerhard Regn formuliert diesen Sachverhalt in seinem Aufsatz "Postmoderne und Poetik der Oberfläche" mit etwas anderer Betonung: "Wenn Texte immer nur auf Texte verweisen [...], verschwindet ein text-unabhängiger Referent gänzlich aus dem Blick" (Regn 1992, S. 64). Da in der postmodernen Gegenwart die gesamte Wirklichkeit "zunehmend im Modus der Zitathaftigkeit, der Fiktionalität, der Tiefenlosigkeit wahrgenommen wird" (ebd., S. 70), scheint Popliteratur - und damit ist im vorliegenden Band vor allem die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre gemeint - im doppelten Sinne zeitgemäß: Sie reflektiert die Gegenwart nicht nur thematisch, sondern auch strukturell und ist damit trotz einer dezidiert genussbetonten und bisweilen auch kommerziell erstaunlich erfolgreichen 'Poetik der Oberfläche' alles andere als 'oberflächlich'.

Zwar hat die Germanistik erst im letzten Jahrzehnt begonnen, die Produktivität der durch popliterarische Texte der 1990er Jahre aufgerufenen Fragestellungen für sich zu entdecken, inzwischen ist jedoch einige Bewegung in die Forschungsdiskussion gekommen: Neben den bereits erwähnten Bänden von Degler und Paulokat sowie von Frank wären hier etwa Moritz Baßlers Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten (2002), Eckhard Schumachers Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart (2003) und Sascha Seilers "Das einfache wahre Abschreiben der Welt". Pop-Diskurse in der deutschen Literatur nach 1960 (2006) zu nennen. Der vorliegende Sammelband schließt auf vielfältige Weise an die bisherigen Arbeiten an und möchte sowohl eine Bestandsaufnahme gegenwärtiger Popliteraturforschung bieten als auch einen Beitrag zur fortgesetzten 'Rehabilitierung' einer für die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre typischen Poetik der Oberfläche im Kontext der germanistischen Literaturwissenschaft leisten.

Die Beiträge im ersten Teil des Bandes (Geschichte und Gegenwart deutschsprachiger Popliteratur) zeigen, dass eine differenzierte Begriffsbestimmung und literaturgeschichtliche Verortung des Phänomens durchaus problematisch ist, aber dennoch steht außer Frage, dass Autoren wie Joachim Bessing, Rainald Goetz, Alexa Hennig von Lange, Christian Kracht, Joachim Lottmann, Thomas Meinecke, Andreas Neumeister, Eckhart Nickel und Benjamin von Stuckrad-Barre dem Projekt einer Popliteratur in den 1990er Jahren verbunden sind oder waren. Neben einer auffälligen Unterzahl von Autorinnen liegt ein gemeinsames Merkmal der Genannten in ihrer medialen wie literarischen Selbstinszenierung. Vor diesem Hintergrund geht es im vorliegenden Band insbesondere um popliterarische Autorinszenierungen. Die Beiträge im zweiten Teil (Popliteratur und Popkultur) behandeln dabei die unterschiedlichen Funktionen intertextueller und intermedialer Bezüge für popliterarische Texte - etwa im Kontext von Dandyismus, Camp-Ästhetik, Gender-Forschung oder Popmusik. Die Beiträge im dritten Teil (Autorschaft und Inszenierung) spüren im Detail unterschiedlichen Autorpoetiken, Entwürfen von Autorschaft und Verfahren auktorialer Selbstinszenierung nach. Die Beiträge im vierten Teil (Zum Beispiel Christian Kracht) schließlich setzen sich mit dem wohl einflussreichsten und vielgestaltigsten unter den 'Kiwi-Popliteraten' auseinander (vgl. ebenfalls die Aufsätze in Birgfeld/Conter 2009).

Referenzen

Baßler, Moritz (2002): Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München: Beck.

Birgfeld, Johannes/Claude D. Conter (Hrsg.) (2009): Christian Kracht. Zu Leben und Werk. Köln: Kiepenheuer & Witsch.

Degler, Frank/Ute Paulokat (2008): Neue Deutsche Popliteratur. Paderborn: Fink.

Frank, Dirk (Hrsg.) (2003): Popliteratur. Stuttgart: Reclam.

Philippi, Anne/Rainer Schmidt (1999): "Wir tragen Größe 46" [Interview mit Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht.] In: Die Zeit 37, Leben, S. 3.

Regn, Gerhard (1992): "Postmoderne und Poetik der Oberfläche". In: Klaus W. Hempfer (Hrsg.): Poststrukturalismus - Dekonstruktion - Postmoderne. Stuttgart: Steiner, S. 52-74.

Schumacher, Eckhard (2003): Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Seiler, Sascha (2006): "Das einfache wahre Abschreiben der Welt". Pop-Diskurse in der deutschen Literatur nach 1960. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.